Tag 4
Tagesetappe: 411 Km
Tourkilometer: 1'328 Km
Tagesmotto: Auf zu den Pyrenäen
Tageshighlight:
Ankunft: Route du Plan d'Eau, 31310 Rieux-Volvestre
Schlafplatz: 43°16'09.1"N 1°10'39.7"E
Ausgeschlafen kriechen wir aus unserem Zelt. Es ist zwischen 8 und 9 Uhr und die Sonne ist bereits aufgegangen. Das Gras ist kühl an meinen Fußsohlen. Sarah stellt unseren kleinen Campingkocher auf und setzt Kaffeewasser an. Während ich beginne das Zelt leerzuräumen, wird sie mit dem Handtuch auf der Schulter und dem Duschbad in der Hand von der netten, alten Dame ins Haus gewunken.
Das Oberzelt muss noch trocknen. Zum Frühstück essen wir das restliche Baguette, die Wurst und den Käse. Um 13 Uhr sollte Sarahs Motorrad fertig sein. Mit meinem Instantkaffee in der Camping-Kunststofftasse schlappe ich in morgendlicher Entspanntheit um die Hausecke zur Werkstatt. Das Tor ist geöffnet und ich werde lächelnd begrüßt. „Vingt minutes!“
Auf den zweiten, noch etwas verschlafenen Blick bemerke ich, dass er gerade dabei ist die Verkleidung wieder ans Motorrad zu schrauben. Es ist kurz nach 10 Uhr und noch bevor ich meinen Kaffee ausgetrunken habe rollt das Moped von der Bühne. Er dreht es um und stellt es vor die Werkstatt in die Morgensonne. Der Schlüssel dreht sich, das Blinker-Relais klackt freudig und erwartungsvoll los. Startknopf gedrückt und die Dame läuft! Sarah kommt, noch Barfuß und in kurzer Hose, sofort um die Ecke und zur Werkstatt gelaufen. Freudestrahlend nimmt sie ihre Transalp in Empfang. Unser Mechaniker freut sich mit uns. Here we go again!
Sarah packt ihre Koffer und den Tankrucksack, während ich schnell duschen gehe. Das Zelt packen wir zusammen in die Packrolle. Ich helfe wie immer beim Verzurren. Für unsere Gastgeber haben wir beim gestrigen Einkauf je ein Gastgeschenk besorgt. Eine gute dunkle Schokolade und eine Packung Celebrations. Mit Küsschen links und rechts – ganz klassisch – verabschieden wir uns von der alten Dame und unserem Tourretter.
Nun geht das Abenteuer weiter. Das Tagesziel heißt: Auf geht’s, heute Abend möchte ich die Pyrenäen vor mir sehen.
Keep on rolling
Wir fahren ein letztes Mal durch Le Puy, über die Hochebene und folgen unserer N88. Auf unserer Reise gab es die ein oder andere Straße, der wir viele Kilometer weit gefolgt sind. Die N88 war eine davon, die sich in unser Gedächtnis eingebrannt hat. Wenn wir eine Zeit lang auf einer anderen Straße unterwegs waren mussten wir lächeln, wenn wir wieder auf unsere N88 kommen. Durch Langogne geht es weiter nach Mende, kurz auf die A75, weiter über Rodez und bis nach Albi. Zwischendrin haben wir mit einem ganz typischen Problem für Frankreich zu kämpfen:
Hilfe – uns geht der Sprit aus!
Es ist immer wieder erstaunlich: Spreche ich mit Frankreichreisenden über ihre Erfahrungen wird das Gespräch unweigerlich auf die benötigte Reichweite der Reserve des Fahrzeugs kommen. Auf einer früheren Reise mit einem alten VW Blümchenbus, hatte ich das Problem schon im Zentralmassiv hautnah kennengelernt und wusste, dass es einen schneller ereilt, als man denkt.
Bis heute unterhält mich die Tatsache, dass ich in Spanien extra einen 5 Liter Tankkanister für die Fahrten in Marokko gekauft habe. Diesen Kanister sollten wir in ganz Marokko nicht ein einziges Mal brauchen. Selbst in den abgelegensten Regionen gab es Tankstellen – nicht Benzin aus Kanistern an der Straße, welches man mit Vorsicht genießen sollte – nein, richtige Tankstellen. So fuhr dieser Kanister scheinbar als nutzlose Reserve mit … bis wir wieder in Frankreich waren. Hier wurde er auf dem Rückweg doch tatsächlich nötig, um die nächste Tankstelle zu erreichen. Einfach eine unvergessliche Erfahrung. In Nordafrika habe ich weniger Sorgen Benzin zu bekommen, als in Mitteleuropa.
Wir fahren zügig und wollen erst eine späte Mittagspause einlegen. Nun geht uns aber langsam der Sprit aus und es kommt keine geöffnete Tankstelle. An der Autobahn kommen wir endlich an einen riesigen Total Rasthof. Der Rasthof ist brechend voll! Unzählige Sattelzüge, Wohnmobile, Reisebusse und Autos. Die dazugehörigen Menschen füllen das riesige Gelände. Es gibt geschätzt 15 Tankreihen und massenhaft Zapfsäulen. Die Schlange ist so lang, wir können es kaum glauben! Wir warten 25 Minuten bis wir Tanken können. Als wäre dies die einzige geöffnete Tankstelle der kompletten Provinz.
Bilder
Vollgetankt und etwas ausgeruht geht es sorgenfrei weiter. Die Reise-Entspanntheit hat eingesetzt. Das neue Lebensgefühl der fliegenden Leichtigkeit ist bei allem Handeln allgegenwärtig. Vor Toulouse beschließen wir zur Sicherheit das Navi (es wird den Namen Alfred erhalten) in Betrieb zu nehmen.
Diese Großräume sind nichts für mich. Viele Autos, Dreck, Stau, Verkehr, Staub, Lärm - einfach so schnell es geht durch. Dieser Sommer 2016 ist einfach von der Sonne geküsst. Es ist wieder unglaublich gutes Wetter, so wie die letzten Wochen. Sarah hat das Navi an ihrem Motorrad und fährt deshalb voraus. Eine Karte bringt in einem Großraum nicht viel. Ich frage immer wieder wohin wir müssen. Auf dem Navi ist das aber nicht gut zu erkennen, der Verkehr ist dicht und Sarah hat erst zwei Wochen den Führerschein. Wir nehmen hier und da eine falsche Ausfahrt, müssen drehen. Sarah steht so unter Stress, dass sie mitten im Autobahnkreuz plötzlich in den Funk schreit. Sie muss anhalten. Die verrusten und heißen Lkws donnern auf der Zweispurigen Autobahn an uns vorüber, als wir endlich eine Nothaltebucht finden. Sarah klappt ihr Visier hoch, das Blut tropft bereits an ihrem Kinn herunter. Ihr Blick ist verzweifelt: "Ich will nicht mehr voraus fahren!"
Jetzt heißt es für mich erstmal Ruhe bewahren und die Situation bewältigen. Stress abbauen. „Los, geh bitte sofort hinter die Leitplanke!“, höre ich mich über den Funk rufen.
Ich nehme den großen Wasserkanister von meinem Motorrad mit und laufe zu ihr. Sarah bleibt hinter der Leitplanke stehen und wäscht ihr Gesicht. Das Blut strömt immer noch weiter. Ich nehme meine neongelbe Packrolle von meinem Motorrad und laufe dem donnernden Verkehr entgegen, um sie neben eine Notrufsäule an den Fahrbahnrand zu stellen – gut sichtbar, wie ein Warndreieck.
Als sich Sarah erholt hat und sich beruhigen konnte fahre ich voraus. Die Sonne wirft bereits lange Schatten, als wir Toulouse südwestlich in Richtung Muret verlassen. Noch immer ist es erdrückend heiß. Wir wollen einfach nur an die Berge. Am liebsten sofort. Ab liebsten möchten wir genau jetzt dort ankommen. Auf einen Pass fahren. Die letzten Meter bis zum Gipfel laufen und dort stehen - einfach über allem ankommen. Ich sehne mich auch danach das Zelt aufzustellen. Mich auf meine Isomatte zu legen, mir mein Tuch ins Gesicht zu ziehen und abzuschalten. Wir sind beide ko.
Kilometerweit rollen wir dahin. Wir fahren einfach immer weiter. Die Sonne geht vor uns unter. Die Silhouette der Berge ist immer besser erkennbar. Noch haben wir keine Ahnung, wo wir schlafen werden. An einem Rastplatz fahren wir raus bis wir einen Platz, direkt an einer großen Grünfläche, zum Anhalten finden. Viele Reisende scheinen hier einfach auf dem Parkplatz zu schlafen. Für uns ist das keine Option.
Nachdem Sarah sich etwas Süßes aus ihrem Tankrucksack gezogen hat, schaut sie mit einem hoffnungsvollen Blick zu mir rüber - als hätte ich eine Lösung um bald anzukommen. Die Karte liegt über meiner Sitzbank aufgeschlagen.
Mein Motorrad riecht nach Fahrt, Freiheit, Benzin und Öl. Diesen einprägsamen Geruch werde ich wohl nie wieder vergessen. Um etwas abzukühlen ziehe ich meine Jacke aus und lege sie über mein Windschild, während ich einen geeigneten Schlafplatz auf der Karte suche.
Sarah kommt dazu und wir schauen gemeinsam. Entscheidung als Team. Bis nach St. Gaudens werden wir es nicht schaffen, es dämmert bereits. Wir fahren also noch bis Carbonne weiter. Dort beginnen unsere geliebten Berge, unser imaginäres Ziel. Wie eine letzte Grenze fließt die Garonne von West nach Ost vor uns. Wir werden am Fluss unser Zelt aufschlagen. Wir müssen nur den Platz finden.
Es ist bereits dunkel, als wir über eine verlassene kleine Landstraße den Weg zum Ufer suchen. Die Grillen pfeifen, die Luft pfeift kühl über meine Hände und durch mein Visier. Bei Rieux machen wir das Navi an und navigieren zu einem Campingplatz. Als wir ankommen hat der Campingplatz geschlossen. Pech.
Wir drehen auf einem großen Schotterparkplatz ein paar Runden, wollen nicht anhalten. Wir fühlen uns zunächst verfolgt da uns mehrere Pkw folgen. Die Fahrer beobachten uns und fahren wieder davon - seltsam. Nur ein Wohnmobil wird letztlich auch über Nacht bleiben. Wir steuern abseits in eine dunkle Ecke und stellen unser Zelt auf. Als das Zelt steht und wir uns umgezogen haben, finde ich noch eine Dose Bier von unserem Großeinkauf in Le Puy. Die Dose schäumt vor Freude über, als sie geöffnet wird und Sarah kann ihr Lachen darüber kaum unterdrücken. Wir haben unser Tagesziel erreicht.
Vor unserem Zelt kommen wir nicht ans Wasser, ich möchte aber unbedingt noch hin. In Flipflops laufen wir zum Eingang vom Campingplatz und stellen fest, dass dort auch ein Freibad ist. Hier kommen wir ans Wasser – perfekt! Der Mond spiegelt sich im Wasser. Vom anderen Ufer hören wir Stimmen herüberhallen – Lachen und Gespräche ...
Welchen Wochentag haben wir überhaupt und wie spät ist es? Das ist es ... das ist wohl das Gefühl, das wir gesucht haben. Wir Leben im hier und jetzt. Wir haben den absoluten Flow erreicht.