Am zweiten Tag auf dem afrikanischen Kontinent wachen wir in Chefchaouen, شفشاون, der “blauen Stadt in den Bergen“ auf. Unser Campingplatz ist bekannt unter Weltenbummlern, Aussteigern und Alt-Hippies. Die Medina, also Altstadt, leuchtet blau unter der marokkanischen Sonne, das Treiben der Menschen in den engen Gassen, die kleinen Stände und verschiedensten Gerüche nach süßen Backwaren und orientalischen Gewürzen – ein entspannter, verträumter und magischer Ort.
Nach über 5.000 Kilometern auf Reise und ständig wechselnden Orten und Schlafplätzen haben sich unsere Lebensgewohnheiten verändert. Wir sind im Flow und beginnen die Welt mehr und mehr auf eine neue Weise zu erkunden und entdecken zu wollen. Was kann ich heute ausprobieren?
Gefesselt von den überwältigenden Eindrücken fasse ich den Entschluss von nun an nur noch Barfuß meine Umwelt zu erkunden. Die letzten Wochen war ich viel barfuß unterwegs. Es ist einfach befreiend aus den Motorradstiefeln zu schlüpfen und mit meinen Füßen den Erdboden berühren können. Eigentlich eine komische Fügung, dass mir der Gedanke von nun an dauerhaft barfuß zu laufen nicht im „sicheren“ Europa ohne nennenswert giftige Tiere kam, sondern am zweiten Tag auf dem afrikanischen Kontinent.
Sarah macht sich allein auf den Weg hinab in die Stadt. Ich folge kurz darauf und wir treffen uns wieder. Einige Stunden erkunden wir die Stadt, frühstückten ausgiebig und in aller Ruhe. Am östlichen Stadtrand fließt ein kleiner Fluss, der Ras El Ma, über Kaskaden aus den Bergen hinab zur Stadt. Kinder springen in die künstlich angelegten Becken und baden, etwas weiter abwärts waschen Frauen ihre Wäsche im kristallklaren Wasser. Aus dem ersten Becken führen einige Leitungen über die kleine Schlucht und bringen Wasser zu den Obstständen, an denen wir alle möglichen Früchte entdecken können.
Inzwischen sind die Mittagsstunden erreicht und wir fühlen, wie es mit jeder Minute wärmer wird. Die Av. Ras Elma führt uns am Stadtrand entlang talabwärts. Rechts neben uns hören wir die Esel brüllen, während sie den steilen Aufstieg hinauf zur Spanischen Moschee getrieben werden.
Mich haben an diesem Tag einige Personen auf meine fehlenden Schuhe angesprochen. Jeder Händler streckt mir bereits bevor ich seinen Stand erreiche ein paar Sandalen entgegen. Die Kinder rennen hinterher und versuchen sie mir mit geschickten Verkaufstricks zu verkaufen.
Mir ist bewusst, dass es in der islamischen Welt unüblich ist barfuß zu laufen. Selbst die Ärmsten der Armen legen Wert darauf, Schuhwerk zu tragen. Auch wenn dieses lediglich aus einem zurechtgeschnittenen Stück alten Autoreifen und zwei Schnüren besteht. Mir war auch bewusst, dass ich mit unsauberen Füßen hätte keine Türschwelle in ein Haus übertreten dürfen. Ich müsste davor meine Füße peinlich genau waschen.
Als wir die Av. Ras Elma hinab laufen kommen wir zum Hôtel Alkhalifa. Vor dem kleinen Haus ist eine Terrasse. Über einige Stufen gelangt man direkt auf die Straße.
Auf dieser Terrasse steht ein alter Mann. Sein Gesicht von Falten durchzogen, seine Haut gebräunt, die Augen kaum zu erkennen. Sein Alter vermag ich nicht zu schätzen. Dem Verhalten der umstehenden Personen nach ein Mann der mit äußerster Bewunderung und Respekt behandelt wird. Er hat einen gepflegten, weißen und sehr langen Bart. Gewänder und eine Kappe, die trotz dem ganzen Staub schneeweiß in der Mittagssonne erstrahlten. In einer Hand hält er einen knorrigen Holzstock um sich zu stützen. Seine Schuhe sind saubere, weiße spitz zulaufende Sandalen wie wir sie typischerweise mit dem Orient verbinden. Aufrecht wie eine Statue steht er da und wacht über das Treiben auf der Straße.
Dieser alte Mann muss jedem sofort auffallen, der an dieser Stelle vorbeikommt. Ich schaue den Mann also erstaunt an. Auch der Mann schaut uns beide mit einem festen Blick an.
Plötzlich geschieht es, ganz langsam, seinen Stock benutzend um sich abzustützen, läuft er los in Richtung der Stufen. Zwei Männer, die vor einem Stand auf der anderen Straßenseite in Plastikstühlen sitzen stehen sofort auf und laufen einige Schritte in Richtung des alten Mannes, abwartend ob er Hilfe brauche. Auch andere Männer in der Straße bleiben stehen, drehten sich um und schauen, was passiert. Es wird ganz ruhig und scheinbar jeder beobacht, was es damit auf sich hat. Auch Sarah und ich bleiben stehen. Der Mann stützt sich am Geländer ab und steigt eine Stufe nach der anderen hinab zur Straße. Auf der Straße angekommen hebt er seinen Blick, schaut mich an und winkt mir mit einer Armbewegung zu, ich solle zu ihm kommen.
Respektvoll laufe ich auf den Mann zu, gespannt darauf was nun passieren würde. Er beugt sich hinunter, zieht langsam erst den einen, dann den zweiten seiner schneeweisen, spitzen Sandalen aus, stellt sie gewissenhaft und parallel nebeneinander, hebt sie auf und streckt sie mir entgegen ohne dabei auch nur einen Ton zu sagen. Er blickt mich an und ein leichtes, freundliches Lächeln zeichnet sich in seinem Gesicht ab, als er barfuß vor mir auf der staubigen Straße steht.
Versteinert mit einer leichten Gänsehaut stehe ich zutiefst peinlich berührt und beeindruck vor ihm und wäre am liebsten im Boden versunken. So wie sich alle Personen hier eben verhalten haben kann dieser alte Mann nicht „Irgendjemand“ sein und auch diese Geste bedeutet einen außergewöhnlichen Moment. Er deutete mir erneut, ich könne seine Schuhe ruhig annehmen und zeigt auf meine nackten, etwas staubigen Füße.
Ich kann seine Schuhe keinesfalls annehmen und mache alles dafür ihm zu zeigen, dass ich dieses Geschenk unmöglich annehmen kann. Ich stottere in Englisch vor mich hin, verbeuge mich ein wenig um meinem Danke, Respekt und meiner Ehrerbietung Ausdruck zu verleihen. Ohne große Worte zu wechseln verstanden wir uns.
Als der Moment sich lockert und wir uns verabschiedet hatten nicken mir die anderen Männer auf der Straße achtungsvoll zu. Ich weiß bis heute nicht, wer dieser Mann war, aber selbst in den Tagen danach und bis heute bin ich zutiefst beeindruckt von dieser Geste.
Die Unsicherheit in einem neuen Land, einer neunen Kultur und Religion anzukommen, vor allem wenn man abseits der ausgetretenen touristischen Pfade reist, verflog mit jedem Mal mehr, wenn ich in den nächsten Tagen über diese Begegnung nachdachte. Der Islam und das Land hatten uns mit offenen Armen empfangen. Diese Wärme und Herzlichkeit sollten wir noch öfter erfahren während unserer Entdeckungstour ins Ungewisse durch Marokko.
Dieser Moment wird mir immer als magisch in Erinnerung bleiben.
Achso, das Barfußlaufen ging noch einige Tage weiter bis wir weiter in den Süden fahren und sich gefühlt unter jedem Stein ein kleiner giftiger Skorpion versteckt.